Wissen teilen – für ein zukunftsfähiges Morgen

Im Interview: Stefan Behnisch

Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit ist ein großer und komplexer Begriff, den ein jeder und eine jede etwas anders interpretiert und versteht. Traditionell haben wir im deutschen Sprachraum diesen Begriff sehr quantitativ verwendet. Wir haben uns darauf konzentriert, Kilowattstunden pro Quadratmeter pro Jahr im Betrieb der Gebäude zu minimieren. Erst in den letzten Jahren haben wir diesen Begriff ganzheitlicher betrachtet. Aber immer noch stehen die quantitativen Aspekte im Vordergrund. Wir ermitteln heute auch die graue Energie, wir denken über zirkuläre Bauwirtschaft nach, wir denken den Abbruch und die Umnutzung von Gebäuden mit. Aber immer noch tun wir uns schwer damit, die qualitativen Aspekte zu bewerten, eben jene, die nicht mathematisch erfassbar sind.

Wo findet Nachhaltigkeit in Ihrem Alltag statt?

In unserem privaten Alltag fassen wir Nachhaltigkeit in der Regel etwas weiter, denn hier geht es ja nicht nur um das Bauen, sondern um unseren gesamten Lebensraum. Sicherlich war die Covid-19-Pandemie eine Unterbrechung unseres Alltags, eine sogenannte „Interruption“, die uns zum Nachdenken gebracht hat. Dies merken wir schon daran, welchen Stellenwert die Klimakrise plötzlich im allgemeinen Bewusstsein einnimmt: immer noch einen zu geringen. Jedoch haben wir festgestellt, dass die Sommer heißer und trockener werden, die Gletscher und die Antarktis schmelzen und dass es Überschwemmungen gibt. Kurz, dass extreme Naturereignisse zunehmen.

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Wir meinten erkannt zu haben, dass ein Geschäftsmodell, das auf viele Langstreckenflüge im Jahr angewiesen ist, nicht sehr sinnvoll ist. Wenn es jemandem nicht gelingt, das umzustellen, zum Beispiel auf Videokonferenzen, dann ist das Geschäftsmodell nicht zeitgemäß und insbesondere nicht nachhaltig.

Und es ist ja nicht so, als wäre dies erst in den letzten Jahren geschehen. Die Unterbrechung unseres Alltags durch die Pandemie hat viele zum Nachdenken veranlasst. So bin ich persönlich zum Beispiel nicht in die Gewohnheiten und Arbeitsweisen des vorherigen Lebens zurückgekehrt. Viele Dinge haben wir, meine Frau und ich, überprüft, als notwendig oder nicht notwendig bewertet, und der Alltag wurde entsprechend angepasst. Vor der Pandemie bin ich sehr viel geflogen, insbesondere beruflich, und nun fliege ich praktisch gar nicht mehr. Wir meinten erkannt zu haben, dass ein Geschäftsmodell, das auf viele Langstreckenflüge im Jahr angewiesen ist, nicht sehr sinnvoll ist. Wenn es jemandem nicht gelingt, das umzustellen, zum Beispiel auf Videokonferenzen, dann ist das Geschäftsmodell nicht zeitgemäß und insbesondere nicht nachhaltig. Ferienflüge wurden bei uns vorerst komplett gestrichen. Nun bin ich schon etwas älter und hatte meinen Anteil, ja mehr als meinen Anteil am internationalen Reisen, am Kennenlernen der Welt. Vielleicht sollten wir unseren Lebensstandard so anpassen, dass auch die jüngeren Generationen diese Welt kennenlernen können, wenn auch nicht ganz so exzessiv wie einige Privilegierte meiner Generation, dies gilt zumindest für jene, die in den Industrienationen leben.

In unseren Büros machen wir schon seit einigen Jahren Assessments des Energieverbrauches, die alle Bereiche umfassen, bis hin zum Kaffee, zum Kopierer und zu den Verpackungen. Wir versuchen unser Verhalten, zum Beispiel auch das Reisen und den Energieverbrauch, den neuen Bedingungen anzupassen. Und das geht. Wir haben umgestellt von vielen Reisen auf Videokonferenzen, die absolut notwendigen Reisen werden mit dem Zug absolviert. Nur in seltenen Ausnahmen, wenn für lange Strecken absolut notwendig, nutzen wir das Flugzeug. Der Fuhrpark wurde in Stuttgart und in Boston auf Elektroautos umgestellt. Es gibt also Dinge, die man tun kann, um den Energieverbrauch drastisch zu reduzieren, und man fragt sich natürlich heute, weshalb wir das nicht schon vor 15 Jahren getan haben.

Warum tun sich so viele Unternehmen, Organisationen, Institutionen und Personen schwer, Nachhaltigkeit im Allgemeinen und nachhaltiges Bauen im Besonderen tatsächlich umzusetzen?

Generell mögen Menschen keine Veränderung. Zumindest keine Veränderung dahingehend, dass man das bisher Erreichte oder den eigenen Wertekanon hinterfragt. Auch hier hat die Pandemie uns gezeigt, dass viele Menschen meinen, man müsse genau da weitermachen, wo man 2019 war.

Unsere Wirtschaft, die Industrie, die gesamte Gesellschaft ist auf dem Prinzip des Wachstums aufgebaut. Und solange wir meinen, eine nachhaltigere Wirtschaft sei ein Rückschritt, wird eine Umstellung schwierig sein. Zumal unsere Betrachtung von Wirtschaft eine rein quantitative ist. Weniger Mobilität, weniger Energieverbrauch, etwas kühlere Räume im Winter und wärmere im Sommer werden nicht als ein möglicher Zugewinn an Lebensqualität, sondern als Verzicht empfunden. Und die Politik trägt dazu bei, uns immer wieder klarzumachen, dass Verzicht böse sei. Wir alle müssen doch verstehen, dass wir in unserer heutigen Situation mit der angelaufenen Klimakatastrophe die notwendige Umstellung unserer Wirtschaft, ja unserer Gesellschaft nicht ohne Verzicht werden meistern können. Wer das meint, ist entweder naiv oder zynisch.

Die Bauindustrie kämpft mit einem weiteren Problem. Sie ist generell unwillig, Dinge zu tun, die sie nicht zuvor schon hundertfach getan hat. Die Bauindustrie ist per se nicht innovativ, insbesondere die großen Unternehmen. Auch unsere Verfahren der letzten Jahrzehnte, mit Generalübernahmen etc. zu arbeiten, sind nicht geeignet, innovativ zu sein. Um nachhaltiger zu bauen und zu wirtschaften, müssten wir über die Komplexität des Bauens, über die Detaillierung, die Vielzahl der Gewerke, die Kompositmaterialien nachdenken und zu einem einfacheren Bauen kommen. Die Rechtslage, die Normen, die Rechtsprechung und auch die Anspruchshaltung lassen dies kaum zu.

Welche Vorurteile begegnen Ihnen in Ihrem Arbeitsalltag immer wieder, wenn es um nachhaltiges Bauen und Nachhaltigkeit geht?

Viele Auftraggeberinnen und Auftraggeber meinen heute noch, nachhaltiges Bauen sei notwendigerweise komplexer und teurer. Das Problem ist, dass man die Ausgangsparameter überdenken muss, wenn man zu neuen Ergebnissen kommen möchte. Niemand ist jedoch willens, die Erwartungen und Ausgangsparameter zu hinterfragen, um zu einer besseren Architektur zu kommen. Wenn ich also bei einem Gebäude den gleichen Komfort in Temperatur und Lärmschutz erwarte wie in der Vergangenheit, kann ich nicht anders bauen oder muss, um dies zu erreichen und trotzdem weniger Energie zu verbrauchen, hochkomplexe und hochtechnisierte Gebäude errichten. Und hier müssen wir ansetzen und hier müssen wir auch mit unseren Auftraggeberinnen und Auftraggebern in den Diskurs kommen.

Sie sagen, Architektur ist eine kulturelle Leistung, die nicht nur den Menschen dienen soll, sondern auch den Stand unserer Gesellschaft und unserer Kultur abbildet. Wo stehen wir denn aktuell?

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Unsere gebaute Umwelt ist sehr heterogen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass das Verständnis des Bauens heute zumindest bei einem Teil der Betroffenen sich hin zu einem nachhaltigeren und qualitativ besseren Standard entwickelt hat. Das ändert nichts daran, dass ein Großteil unserer gebauten Umwelt grauenhafte Zweckbauten sind, die in ihrem Entstehen sicherlich nicht Teil der heute so notwendigen Diskussionen waren.

Sie sagen, dass Sie ein Verfechter des nachhaltigen Designs sind, seit Sie als Architekt arbeiten. Was heißt das genau? Und wie hat sich das Thema für Sie in den letzten Jahren verändert?

Ich habe mich schon früh während meiner Schulzeit, also bevor ich Architektur studierte, mit den Problemen auseinandergesetzt, die wir als Menschen für unsere Umwelt darstellen. In der Schule hatten wir das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ gelesen und besprochen. Schon damals war für jeden erkennbar, in welches Problem wir als Menschheit hineinleben werden.

Als ich dann begann, als Architekt zu arbeiten, war mir die Hochtechnisierung der Architektur suspekt. Zum einen wusste ich aus eigener Erfahrung, wie unzuverlässig Maschinen sind, und dass ich doch nicht mein Wohlbefinden im Alltag von komplexen Maschinen und Steuerungen abhängig machen kann. Zum anderen war mir wie auch vielen meiner Freunde und Bekannten schon bewusst, dass wir ein Energieproblem bzw. ein Problem mit dem Verbrennen fossiler Energien als Quelle von CO2 haben.
Ein Schlüsselprojekt für mich war unser IBN-Institut in den Niederlanden. Bevor der Begriff Nachhaltigkeit beim Bauen en vogue war, hatten wir hier einen Wettbewerb für ein energiesparsames und menschenfreundliches Gebäude gewonnen. Und gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut hatten wir ein ausgesprochen nachhaltiges Gebäude geplant, das noch heute sehr gut funktioniert. Dieses Gebäude hat uns allen gezeigt, dass wir bei der Auswahl der richtigen Materialien und mit einer sorgfältigen Planung eine hohe architektonische Qualität mit einem guten Komfort für die Bewohnerinnen und Bewohner mit geringen technischen Mitteln schaffen können. Natürlich sind wir vom Wissen her heute weiter. Jedoch musste ich feststellen, dass wir ein Gebäude in dieser Radikalität nicht mehr umsetzen konnten. Dass es uns damals gelang, lag einzig und allein an den Nutzerinnen und Nutzern des Gebäudes, die alle Biologen des niederländischen Umweltministeriums waren. Diese hatten uns geholfen, nicht nur die richtigen Pflanzen für die Gärten auszusuchen, sondern insbesondere auch zu verstehen, welchen Einfluss Nutzerverhalten und Nutzeransprüche auf das Ergebnis haben. Das Thema hat mich seither in unterschiedlicher Intensität begleitet, jedoch immer mit dem Wunsch, bei jedem Gebäude etwas Neues, etwas Interessantes zu schaffen, was das Thema der Nachhaltigkeit weiterbringt. Nicht immer ist uns das gelungen. Ein wichtiger Aspekt war sicherlich für mich auch die Zusammenarbeit mit sehr guten Ingenieuren wie zum Beispiel Thomas Auer von Transsolar, Neil Thomas von Atelier One, Robert Müller vom Bartenbach-Lichtlabor oder Thorsten Helbig von Knippers Helbig, um nur einige zu nennen. Dieser Austausch, ebenso auch mit den Architektinnen und Architekten unseres Büros und mit engagierten Bauherrinnen und Bauherren, macht unsere Arbeit so interessant. Und das Thema Nachhaltigkeit ist neben aller aktuellen Notwendigkeit natürlich auch ein Thema, das interessante und motivierte Menschen anzieht.

Es gibt genügend Gebäude, die zeigen: Wir können Zukunft bauen. Warum betrachten wir diese heute immer noch als beispielhaft und schaffen es nicht, diese Ansätze in die wirklich breite Fläche zu tragen? Geht Veränderung nur durch Gesetze?

Es gibt viele gut gebaute Beispiele. Aber wie immer in der Architektur sind die guten Beispiele eben jene, die man bewundert, von denen man jedoch denkt, dass diese unter ganz besonderen Umständen entstanden sind, die einem nie begegnen. Das betrifft nicht nur die Fragen der Nachhaltigkeit, sondern insbesondere auch die Fragen der architektonischen Qualität. Ein Architekt, der sich mit kommerziellen Bauten in B-Qualität zufriedengibt, wird trotzdem die neue Nationalgalerie bewundern. Er wird auch andere zeitgenössische herausragende architektonische Beispiele bewundern, aber nicht auf den Gedanken kommen, diese hätten irgendetwas mit seinem eigenen beruflichen Wirken zu tun. Und so ist es auch bei dem Thema der Nachhaltigkeit. Es gibt herausragende Beispiele. Und diese sind nicht einmal sonderlich aufwendig oder komplex, aber einige Kolleginnen und Kollegen würden sie nicht im Zusammenhang mit dem betrachten, was sie tun. Man hat leichte Ausreden: Die Bauherren wollten das nicht, es war zu teuer, es war zu aufwendig und vieles anderes mehr. Wir kennen es doch, die Entschuldigungen hinterher gibt es immer. Jedoch meine ich, dass gute gebaute Beispiele trotzdem einen gewissen Pull-Effekt haben.

Es gibt einige wenige. Immer wenn sich neue Themen in der Architektur entwickelt hatten, wie zum Beispiel der Strukturalismus oder die tragwerksorientierte Hightech-Architektur, so haben diese auch eine eigene formale Sprache entwickelt, die das Thema überhöhte. Und erst, wenn das Thema ausgereizt, beherrscht war, kamen wieder neue formale Sprachen zum Tragen. Dieser Prozess ist bei der nachhaltigen Architektur bis heute kaum erkennbar. Es scheint so, als würden wir Architekten uns für dieses Thema fast schämen und es möglichst unauffällig im Kleid der traditionellen alten oder zeitgenössischen Architektur umsetzen. Und auch das mag natürlich zu einem gewissen unsinnigen Aufwand führen, wenn wir den Gebäuden eigentlich nicht erlauben, als das in Erscheinung zu treten, was sie sein wollen. Müssten nachhaltige Gebäude sich nicht in ihrer Erscheinung den Jahreszeiten anpassen können, sich wandeln? Müssten Energiesysteme wie Photovoltaik nicht eigentlich ein architektonisch integriertes Mittel werden und nicht ein „Add-on“?